Mittwoch, 1. April 2009

Die Wirklichkeit

Dass dieses Jahr eine Bundestagswahl (und so einige Landestagswahlen anstehen) bemerkt man unter anderem daran, dass landauf, landab Politiker aller Couleur wie Kaninchen auf Crack vor Mikrophonen stehen und sich verzweifelt mit irgendetwas zu profilieren versuchen.

Neben zum Beispiel Frau von der Absolut_und_vollkommen_Laienhaft hebt sich derzeit auch der bayrische Innenminister mit hysterischen Behauptungen hervor, die schon hart an der Grenze zur Volksverhetzung sind.

Gestern abend hatte ich nun ein nettes Gespräch in WoW mit einem dieser Jugendlichen, die gemäß dem Willen unserer lieben Volksvertreter vor diversen Dingen geschützt werden sollen, von denen die Volksvertreter aus gutem Grund keine Ahnung haben wollen. Wir haben uns über die Forderung nach zB. einem World of Warcraft ab 18 unterhalten, über die Spiele, die er sonst so kennt und mag und sogar über erste Suff-Erfahrungen mit Alkohol. Das sitzt ein aufgewecktes Kerlchen von knapp 15 Jahren zu Hause vor dem Rechner, hat auf seiner Festplatte alle Killerspiele, die man in diesem Alter einfach haben muss, zockt seit zwei Jahren WoW (mit Stundenlimit seitens der Eltern, zweckswegen Schule und dergleichen) und hatte letztlich auf einer Party den ersten Alkoholrausch.

Die "Killerspiele" hat er alle im US-Original, da sein volljähriger Bruder sich das Zeug alles bei Okaysoft und Co. bestellt. Die Spieldaten zu WoW lädt er sich offiziell ganz einfach von Blizzard herunter und vor einer möglichen Altersbeschränkung von WoW hat er nicht den geringsten Bammel, weil er seinen Eltern gezeigt hat, dass er sich an Absprachen halten kann und er seine Mutter schwer beeindruckte, als er ihr vorgeführt hat, wie man eine Gruppe durch eine Instanz führt. Den Schnaps auf der Party gab es von einem Kumpel eines Kumpels, der schon volljährig ist. "Angst" vor irgendwelchen neuen Gesetzen oder Bestimmungen, die ihm vielleicht einige Dinge vorenthalten würden, hat er überhaupt nicht, da er ganz genau weiß, wie man trotzdem an alles kommt. Nur Schisser müssen verzichten, so seine Worte.

Die öffentliche Moral verlangt, dass ich diesem Knaben mit wohlgesetzten Worten erzähle, wie schrecklich gefährlich Alkohol ist, dass WoW seine Schulleistungen negativ beeinflusst und dass Killerspiele aus ihm eine emotionslose, verrohte Mordmaschine machen. Die öffentliche Moral würde vielleicht auch verlangen, dass ich seine Eltern ausfindig mache und ihnen mitteile, dass ihr Sprössling letztlich zum ersten Mal gesoffen hat. Ich weiß genau, dass mir dies bei meinen Kindern NICHT gefallen würde, würde ich das mitbekommen. Aber ich hoffe, dass meine Kinder, so sie denn eines Tages in dieses Alter kommen, schlau genug sind, um solche Sachen vor ihren Eltern zu verbergen.

Meine eigene Moral sagte mir gestern abend nur, dass ich hier mit einem aufgeweckten Knaben sprach, der mit seinen Eltern einigermassen auskommt, der keine Lust auf Schule hat, aber trotzdem irgendwie immer hingeht, der jetzt die ersten Party- und Mädchenerfahrungen macht, der seine Grenzen austestet, der seine Erfahrungen macht, der einfach ein ganz normaler Jugendlicher des Jahres 2009 ist. Ein Jugendlicher speziell seiner Zeit und trotzdem ein ganz normaler Jugendlicher, so wie sie seit Jahrtausenden die jeweils ältere Generation in den Herzinfarkt treiben. Ein Jugendlicher, der die Doppelmoral und die Lügen der Erwachsenen, vor allem was ihn als Jugendlichen betrifft, schon sehr gut durchschaut hat und der es bedauert, im Herbst noch nicht wählen gehen zu dürfen.

In solchen Momenten wünsche ich mir einen Jugendschutz, der Jugendliche vor den politischen Exkrementen eines Hr. Hermann oder dem blinden Aktionismus eines Laienspieltheaters bewahrt. Der Jugendliche vor einer Politik schützt, die sich nur an kurzfristigen Umfragewerten orientiert, am eigenen Machterhalt ohne Rücksicht auf Verluste, die Jugendliche nur als politisches Faustpfand benutzt, um persönliche und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen.

DAS wäre dann ein "Jugendschutz", der seinen Namen verdient, denn alles, was hierzulande offiziell unter diesem Begriff firmiert, ist nichts weiter als eine Sammelgrube für paranoide Kontrollfetischisten, moralinsaure Gutmenschen und ehrgeizige Karrieristen, die ein potentielles Sprungbrett erkennen, wenn sie es sehen.

Das ist die Wirklichkeit. Nicht schwarz, nicht weiß. Kompliziert und nicht einfach. Widersprüchlich und eigensinnig. Wirklichkeit, erfahren in einem langen, guten Gespräch, geführt von virtuellen Charakteren auf einem virtuellen Marktplatz in einer virtuellen Welt. Vielleicht erkennt man deswegen die Wirklichkeit umso besser ... weil sie weit weg ist und man nicht mehr Teilnehmer, sondern ungestört nur Beobachter sein kann.