Sonntag, 19. Juli 2009

Fremdbestimmt

Prinzipiell ist es ja eine schöne Sache, wenn Dinge passieren, die in ihrer Eindeutigkeit die eigene Position verdeutlichen und stärken. Dann muss man sich nicht mehr den Mund fusselig reden, sondern kann einfach auf diese Vorfälle verweisen, wahlweise leicht bedauernd (wenn man dem Gegenüber tatsächlich helfen möchte) oder mit einem süffisanten Lächeln präsentieren (wenn man den Gegenüber in die Pfanne hauen möchte).

Doch dieses Vergnügen bezieht sich nur auf einen selbst, den kurzen Moment des "Hab ich's doch gleich gesagt", das triumphierende "Wusst ich's doch!". Der Moment verstreicht, wird schale Erinnerung. Denn oft genug lernt der Gegenüber nichts aus diesen Ereignissen. Sie werden ignoriert, verleugnet, verdrängt, als Zufall abgetan. Man möchte nicht verlieren, man möchte sich nicht eingestehen falsch gelegen zu haben. Von daher bin ich mir nicht sicher, welche Lernwirkung das neueste DRM-Debakel haben wird, über welches aufmerksame Leser gestern in so ziemlich jedem IT-Newsmagazin oder der entsprechenden Rubrik großer Nachrichtenportale nachlesen konnten.

Bezogen auf den Spielebereich könnte man natürlich sagen, dass hier jedwede Aufregung fehl am Platze ist. Wer im Glaushaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen! Denn das genaue Gegenstück zu der Möglichkeit von Amazon, Inhalte auf den Kindle-Lesegeräten der Kunden nach Belieben zu manipulieren, sind die allseits beliebten MMOs, die ihren Inhalt direkt von den Servern der Betreiber beziehen. Ein MMO-Betreiber bestimmt en Detail, was der Spieler zu sehen bekommt und was nicht. Via Patch werden Inhalte entfernt, verändert und neue hinzugefügt. Bei allen Spielern. Ohne dass diese eine Möglichkeit haben, diese Veränderungen abzulehnen und trotzdem weiterhin das Spiel spielen zu können.

Hmm, und wenn ich genauer darüber nachdenke, dann haben wir diese Situation nicht nur bei MMOs, sondern auch bei den immer beliebter werdenden digitalen Vertriebsplattformen wie zB. Steam. Dort ist die Möglichkeit automatische Updates zu verweigern, im "Fabrikzustand" des Steam-Clients nach der Installation ausgeschaltet. Würde zB. ein prominenter Politiker aus Land A gegen Valve klagen, dass ein NPC-Model in Half-Life 2 ihm zu ähnlich sehe, das Model daher entfernt werden müsse und Valve, um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden (und um natürlich weiterhin problemlos Geschäfte mit Kunden aus Land A betreiben zu können), beim nächsten Update das Model austauscht/entfernt, dann würde dies auch bei Kunden passieren, die NICHT in Land A leben, denen es scheissegal ist, wem ein NPC-Model nun ähnlich sieht oder nicht. Und das nächste Mal ist es kein Model, sondern vielleicht eine Wandtextur mit einem Poster, bei dem der Leveldesigner im Rahmen des Spiel-Settings eine bestimmte Aussage machen möchte, die, aus dem Kontext gerissen, manchen Leuten aus Land B sauer aufstößt, worauf man Valve vor den Kadi zerren möchte usw. usf.

Möglich ist das, weil man Steam-Spiele nur mit dem Steam-Client starten kann und selbst ein Backup nach dem Restore einmalig wieder online "aktiviert" werden muss. Valve kann seinen Kunden vorschreiben, was diese sehen dürfen und was nicht. Steam ist DRM. Digital Restriction Management.

Das alles sollte man sich bewusst machen, wenn man Geld für MMOs ausgibt, wenn man Geld für DRM-verdongelte Produkte ausgibt. Man gibt das Recht auf, selbst bestimmen zu können, was man sich anschaut und was nicht. Zugegeben, das ist im Spielebereich auf Grund seiner unpolitischen Inhalte nicht ganz so dramatisch, aber gewöhnt man sich damit nicht an den Gedanken, nur noch rechtloser Empfänger fremdbestimmter Inhalte zu sein, die der Betreiber nach Belieben manipulieren kann?

Sicher, bei einem MMO kann ich einfach mein Abo kündigen, auslaufen lassen und dem Betreiber künftig kein Geld mehr geben, wenn mir die Veränderungen nicht passen. Es ist tatsächlich "nur" ein Spiel, ein harmloses Unterhaltungsprodukt. Sicher, ich brauche nicht unbedingt bestimmte iPhone-Applikationen, die Apple im Rahmen der technischen Möglichen des iPhones einfach vom Store und den Geräten selbst entfernen kann. Ich kann die von Amazon gelöschten eBooks auch problemlos aus anderer Quelle, so ganz analog und von etwaigen Rechteinhabern unkontrollierbar, beziehen und von allen inhaltlichen Veränderungen geschützt ins Bücherregal stellen. Man muss hier nicht das Bild einer neuen, perfiden und perfekten Möglichkeit der digitalen Bücherverbrennung an die Wand malen. Der Kindle ist nur ein Nischenprodukt, das iPhone ist nur ein Nischenprodukt, ein MMO ist nur ein Nischenprodukt und auf all diese Produkte kann man problemlos verzichten, ohne dass einem dadurch auch nur der kleinste Nachteil entsteht.

Aber man stelle sich nur vor, wenn es immer mehr dieser Nischenprodukte gibt, wenn immer mehr Menschen sich daran gewöhnen, keine Rechte mehr zu haben, weil es ja jetzt jeder tut. Man stelle sich nur vor, wenn "Fremdbestimmtheit" die Norm ist und all diese Nischenprodukte zusammengenommen über 90% des Marktes darstellen. Wenn bestimmte Geräte nur bestimmte Nachrichten anzeigen können, weil andere Nachrichten dem Betreiber oder dem Staat, in dem der Betreiber Geschäfte machen möchte, nicht in den Kram passen. Wenn man die große Masse effektiv und nach Belieben manipulieren kann, weil der Verzicht auf derartige Geräte, Plattformen und Produkte dazu führt, dass man sich selbst komplett aus der Gesellschaft ausgrenzt?

Von daher ... ich finde es gut, dass dieser Vorfall bei Amazon ausgerechnet (!) "1984" von George Orwell betraf. Denn heute kämpfen wir zusammen mit Ozeanien gegen Eurasien. Aber schon morgen werden alle Inhalte ausgetauscht und plötzlich haben wir schon immer mit Eurasien gegen Ozeanien im Krieg gelegen. Du glaubst mir nicht? Schau im Lexikon nach, im Geschichtsbuch. Da steht es doch Schwarz auf Weiß!